Barrikaden. Mediengeschichte und Kulturtechniken des Revolutionären im Paris des 19. Jahrhunderts
Hippolyte Bellangé, Révolution de 1830 (29 juillet), Formation des barricades, Druckgrafik, 1830.
Die Dissertation untersucht den Barrikadenbau und Straßenkampf im Paris des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der Transformation der Stadt in eine moderne Metropole. Das Ziel der Arbeit ist es, einen neuen Beitrag zur Erforschung der revolutionären Stadtgeschichte am prominenten französischen Beispiel aus einer medienhistorischen Perspektive zu leisten. Damit liefert sie auch neue Impulse für die Stadt-, Konflikt- und Bewegungsforschung urbaner Proteste im 20. und 21. Jahrhundert.
Barrikaden sind weder auf ein bloßes Symbol für Protestbewegungen noch auf populäre Spontanität zu reduzieren, sondern sie müssen in ihrer provozierenden Medialität ernst genommen werden. Revolutionäre Umbrüche unter Einsatz von Barrikaden bringen widerständige Akteur-Netzwerke hervor. Sie sind eine zugleich materielle und diskursive Protesthandlung im urbanen Raum. Verschiedene Repräsentationsformen wie Gemälde, Druckgrafiken und Fotografien, aber auch Karten und Statistiken machen dies sichtbar, während die Pariser Barrikaden in der populären Literatur und Tagespresse, in Pamphleten, Gerichts- und Verwaltungsakten zu einem notorischen Topos werden. Inwieweit bringen jedoch mediale Artefakte, Körperpraktiken und Kulturtechniken unter ihren je eigenen Bedingungen revolutionäre Ereignisse und Subjekte selbst erst (mit) hervor?
Mit der sogenannten »Sanierung« von Paris durch Napoleon III. und seinen Präfekten Haussmann wird im Namen von Hygiene und Zirkulation nach 1848 ein zunehmend autoritärer Stadtumbau forciert. Als wichtiges Mittel gilt der Straßendurchbruch zum Bau breiter Boulevards. Im Boulevard operationalisieren sich die vielfachen Forderungen nach mehr Gesundheit, Wohlstand und Sicherheit. Einige Zeitgenossen kritisieren solche Eingriffe in den öffentlichen Raum als eine politische Strategie, um zukünftigen Unruhen vorzubeugen, sodass manchen schon eine neue Straßenpflasterung als konterrevolutionäre Maßnahme erscheint.
Auf den ersten Blick steht die aufständische Umnutzung der Straße für Barrikaden in der Zeit zwischen der Julirevolution 1830 und der Pariser Kommune 1871 konträr zur massiven Transformation der gebauten Pariser Umwelt von oben. Jedoch sind diese Fronten von Anfang an durchlässig und ambivalent: Während die Regierung für die infrastrukturelle Sicherung von Paris wirbt, überbieten sich Ingenieure in der Erfindung »beweglicher Gegen-Barrikaden«. Verschwörer wie Auguste Blanqui entwerfen ein klandestines Handbuch zum »regulären« Barrikadenbau, während eilig gegründete »Barrikadenkommissionen« den nächsten Kampf organisieren wollen. Wie lässt sich dieser Zusammenhang zwischen einer »Kunst des Aufstandes« (Friedrich Engels) und einer »Regierungskunst« (Michel Foucault) genauer fassen?
Anhand von bisher kaum beachteten schriftlichen und bildlichen Archivmaterialien sowie publizierten Quellen diskutiert die Dissertation die wechselseitige Verfertigung von Boulevards und Barrikaden als Techniken einer revolutionären Kultur im Paris des 19. Jahrhunderts. Damit will sie eine dezidiert kulturwissenschaftliche Perspektive in die politische und soziale Geschichte von Protest eintragen. Denn die mit Barrikaden und verwandten Protesttechniken verbundenen Vorstellungen, Praktiken und Politiken sowohl des Gebrauchs öffentlicher urbaner Räume wie auch deren Regulierung haben bis heute nichts von ihrer Aktualität und politischen Brisanz verloren.
Auguste Blanqui, Anleitung für einen bewaffneten Aufstand (1868), Manuskript, Bibliothèque Nationale de France.